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S t I m m e n i
n d e r N a c h t
Wie sich das Wasser der Flüsse in den Wolken fängt,
der Wind sie vorantreibt und dasselbe Wasser woanders lang erwarteter
Regen ist, zuerst auf die Blätter fällt, dann ins
Gras und zuletzt in die Erde dringt, so kehren wieder jene
Erinnerungen daran und mit ihnen, wie die schnell dahin segelnden
Vögel, der Schmerz.
So, wie das Schicksal des Menschen in der Welt unvorhersehbar
ist, bald dorthin geworfen, bald alles verloren und nur manchmal
unter günstigem Stern, Augenblicke nur, entschwindet das
Leben, wie ein Traum von dem nichts bleibt. Was ist dann
der Schlaf in der Nacht, wenn Vergänglichkeit und nahender
Tod uns begleiten und alles Tun nur ein kurzes Aufblühen,
schnell welkend und fallend mit dem ersten Wind? Was ist die
Saat der Liebe dann, vor dem Winter eingegraben und mit dem
Ende des Sommers geerntet? Worum trauern wir, wenn ohne Kampf
die Blätter fallen, im Sturm der Baum zerbricht, Welle
auf Welle folgt und Schnee fällt und Schnee schmilzt, worum
trauern wir da noch?
WARUM, wenn der Mond hinter weißen Wolken verborgen,
wenn flieht das Reh in den Wald, wenn sich das Abendrot senkt,
wenn wechselt die Farbe das Blatt, wenn sich beugen die Wipfel
im Wind, wenn die Ufer des Meeres gefroren, wenn wir ununterbrochen
daran denken müssen, wenn kalt die Berge am Morgen,
wenn es leise regnet und unaufhörlich trommelt, wenn wir
nicht schlafen und es dunkel wird, wenn zu Ende der Weg und
wir nicht müde, WARUM, wenn wir doch nicht umkehren
können?
WARUM, wenn wir die Antwort nicht finden oder warten
und frieren müssen, solange, bis sich nur etwas öffnet
die Blüte nach langer Nacht?
Wenn wir rufen, wimmern, stumm und ausgesetzt, weder sehen
noch lieben können, nicht gehen noch ruhig liegen, sondern
fortgerissen werden und nicht ankommen, noch wissen wohin, warum?
Warum sind da Menschen, die im Mondlicht gehen?
WARUM, wie Fischer in der Nacht das Meer befahren, die
Furcht vor Schritten im Dunkel und dem Schweigen hinter der
Wand, unverständliches Flüstern, als ob es geschrieen
wird?
Was, haben wir zurückgelassen, was ist geblieben nach
allem und warum nicht lang genug?
WARUM, die ganze hindurch und das Dunkel am Tage, was
haben wir vergessen, beim Anblick dahinfließenden Wassers
und das WARUM sind wir aufgebrochen und jetzt so still geworden,
WARUM? WARUM warten wir, zwischen dem, was uns trennt und
dem was wir bringen, zwischen langsamem Traum und verlorenen
Stunden, zwischen Abschied und dem Heimflug der Vögel,
zwischen leichtem Nebel und dem, was schneit in uns?
WARUM, als sei gar nichts, schleppen wir die Last, als
wären wir allein, unerreichbar und übermüdet
von Sehnsucht und mit der Traurigkeit dessen, der geht und dem
Schmerz dessen, der bleibt?
WARUM, gehen wir weiter und kommen nicht zur Ruhe, unentwegt,
streifen Land, Wasser, Luft, graben die Erde auf, durchbrechen
des Himmels Grenzstation, betreten fremdes Gestirn und plündern
es aus; richten zugrunde unser Leben, halten für wahr,
was Täuschung ist, sehen, ohne die Augen zu schließen,
reden und hören den Sinn biegsamer Zweige nicht oder empfangen
was der Wind hinterläßt, obwohl Musik ertönt
und das Herz ergreifen kann?
WARUM, wenn wir alles besitzen und es nicht verlieren,
und WARUM, wenn wir es verlassen und WARUM, wenn wir es wiedersehen;
WARUM, wenn wir beieinander liegen und WARUM, wenn es den
Hunger stillt; WARUM, wenn wir vom Weg abkommen und WARUM,
wenn die Krankheit ist überwunden?
WARUM, wenn die Stimme versagt?
WARUM, Menschenschatten auf Blütenblättern?
Ist das Herz ein eingeschneiter Berg? Ist die Hand größer
als die Wange? Und Tod und Leben genau passend? Das eine
durch das andere verlassen? Gleich zwei verschlungenen Träumen-
unauflösbar, wenn wir daraus erwachen?
WARUM, daß wir es verwechseln können? daß
wir uns damit trösten? daß wir es erleiden müssen?
daß dem Leid keine Hilfe wird? daß es verschwindet,
sobald wir es erblicken? daß tief ist doch das Menschenherz.
daß der Wind durch alles weht, Lebende und Tote zugleich?
WARUM, daß wir einander gleichen, daß wir
es teilen, daß wir es verbergen, daß wir es
rufen, daß wir darin versinken, daß wir es erfüllen,
daß wir niederknieen, daß wir es auf verschiedenen
Wegen tun, daß wir es erwarten, daß wir es annehmen,
daß wir es verfehlen, daß wir es berühren,
daß wir es ahnen, daß wir es zerstören?
WARUM, daß wir uns nicht verirren? daß wir
uns bewegen? daß es Berührung ist? daß
es nur Berührung ist? daß es durch` s Wasser gehen
ist? daß es Schneegestöber ist? daß es
plötzliches Erblinden ist? daß es langsam am Schmerzlichsten
ist? daß es die Faust um Scherben schließen ist?
daß es die Münder aufeinander pressen ist? daß
die Herzen dabei rückwärts gehen? daß sie schwerer
werden danach?
WARUM, daß wir nicht dorthin wollen, wo wir
hin gelangen? daß wir nicht dorthin kommen, wohin
wir treiben? daß wir uns kaum mehr als streifen in diesem
Leben? daß wir uns ganz vergeblich quälen?
WARUM, daß die letzte Nacht so bald schon kommt?
daß wir blind gewesen sind? daß es ohne besonderen
Grund geschieht? daß es aufhören kann? daß
es keine Spuren hinterläßt? daß es lautlos,
wie dampfender Atem ist? daß der Himmel am Morgen heller
wird? daß die Sterne treten ins Dunkel zurück?
daß das Licht der Sonne uns wachsen läßt? daß
es nicht nötig ist, es zu erwähnen? daß wir
den Wind am leeren Himmel dabei hören?
WARUM, daß wir nur undeutlich fremde Schmerzen
fühlen können, daß echter Schmerz ins Eingeweide
dringt?
© Thomas Werk · 1998 |