Thomas  Werk

 

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O d y s s e u s   K l a g e l i e d e r

 

O, Vater, wache auf, höre meine Stimme, ich rufe um Hilfe!
Ich komme um auf meinem Weg; ich gehe in ein offenes Grab!
Ich bin müde und mein Herz ist wund; ich bin gestürzt und stehe nicht
mehr auf; ich bin für immer vergessen!

O, Vater, wache auf, wie lange schon liege ich im Staub?
Tag und Nacht hindurch und ich sehe Licht und Schatten;  
eine Hand berührt den Boden und die andere zeigt in das Land.

O, Vater, wie lange noch willst du zusehen; ich beuge mich in Trauer
und meine Knie sind zerbrochen; laß mich nicht allein!
Es kommen da Gestalten mit drohenden Gesichtern und Waffen
in den Händen und immer wieder fordern sie von mir, wovon ich nichts weiß;  
nimm sie doch weg, schweige nicht, wache auf!

Laß ihren Mund nicht aufgehen und sie schreien: Das haben wir gewollt!
Halte sie zurück, daß sie wissen: Du hast mich nicht verstoßen!
Verberge mich vor ihnen, daß sie nicht tun, was Menschen mir tun können!

O, Vater, ich bin in tiefe Wasser geraten; mich treiben Stürme hin und her!
O, Vater, über mir sind schwere Wolken und sie schütten kalte Güsse aus!
O, Vater, ich bin in der Wüste und finde keine Nahrung!
Und am Himmel zeigen sich Vögel und sie kommen näher und näher heran!
Und hinter mir her laufen Schakale und sie heulen mich an!
Und von den Bergen stürzen Steine, daß sie mich zermalmen!
Alles hat sich gegen mich gewandt; keine Heimkehr gibt es mehr für mich!

O, Vater, warum hältst du still und es ist so still ohne dich?
Wie kann ich wissen, ob du noch lebst oder ich dich betrauern muß?
Wie kann ich wissen, wo ich bin, wenn du mich verlassen hast?
Wie kann ich wissen, wo ich suchen soll, wenn du gegangen bist?

O, Vater, gib mich nicht in den Tod, sage nicht: Ich wartete umsonst!
Meine Stirn ist zerwühlt und unter meinen Füßen ist kein fester Grund.
Meine Lippen sind zersprungen und mein Rücken gekrümmt.
Meine Haut ist zerschlagen und kalt kommt aus mir der Atem.

O, Vater, ich werde überall weggetrieben; niemand faßt mich an!
Ich wälze mich schlaflos im Fieber und es würgt mich mein Hals.
Ich gehe zögernd am Tag und ziehe das eine Bein nach.
Ich habe mir einen Arm aus der Schulter gebrochen und die Zähne ausgeschlagen.

O, Vater, wache auf, höre meine Stimme, ich rufe!
O, Vater, wirst du es nicht tun, schützt du mich nicht, bin ich dahin!
O, Vater, wache auf, höre meine Stimme, wasche meine Wunden!

...

Ich will dich sofort, komm,
du hast mir alles genommen,
du hast mich verwirrt und ich irre
umher, dich noch einmal zu finden.

Komm, ich kann es nicht vergessen,
nicht einen einzigen Blick deiner Augen,
nicht den Hals und nicht die Lippen  
und nicht das Haar; nicht deinen Gang  
und nicht deinen Leib und nicht die Hand.

Komm, ich kann es nicht vergessen,
nicht die Nächte unter einer Decke  
und nicht die Morgen danach  
und nicht das: `Wie viele nur waren es doch? ´
jetzt, da ich keinen Frieden finden kann.

Komm her zu mir, du bist das Meer,
das bis an die Berge dringt und sie
einfallen und versinken darin.
Du bist klar wie Sonnenlicht,
das hinter den Wolken hervorbricht.
Du bist kühles Gras unter dem Baum
in der Hitze des Sommers.
Du bist der Wind in einem Weizenfeld,
ein sanfter Wind in der Nacht.

Komm doch, ich bin wach und rufe dich!
Komm, ich will vor dir hergehen,
solange, bis wir zu Hause sind;
den ganzen Weg und die ganze Zeit.
Komm, laß mich früh aufbrechen;
ich hole dich zurück.

Komm doch, warum antwortest du nicht?
Laß mich hier nicht sterben, denn
ich bin fast schon zunichte geworden;
Komm doch; ich suchte dich,  
aber ich fand dich nicht!

...

O, mein Sohn, Kind, geh zum Brunnen und hole deiner Mutter Wasser!
O, mein Sohn, Kind, halte sie; ich habe dort bei euch Fremde gesehen!
O, mein Sohn, Kind, geh nicht weg; du bist das Einzige, das sie jetzt hat!

Ich will euch sagen, daß ich lebe und das ihr nicht weinen braucht,  
darum bitte ich euch, denn die Feinde werden sterben  
und unser langes Leben wird noch lange dauern!

Ich will euch sagen, daß ihr nicht leer und einsam auf der Erde sitzen sollt,  
darum bitte ich euch, denn ich habe euch nur einen kleinen Augenblick verlassen!

Ich will euch sagen, daß ihr nicht die ganze Nacht in den dunklen Himmel schaut,  
darum bitte ich euch, denn die Hände der Feinde werden abgeschlagen,  
wir aber werden uns umfassen!

O, mein Sohn, Kind, antworte mir, antworte mir in der gleichen Weise!

Vater, ich will dir sagen, daß wir uns den Fremden nicht beugen;  
laß dein Herz ruhig schlagen, denn wir wissen, daß der Tag kommt,
an dem wir uns umarmen!

Vater, ich will dir sagen, daß Mutter die Tür abschließt
und niemandem auftut; laß dein Herz ruhig schlagen,
denn sie ist still den ganzen Tag und in der Nacht ruft sie deinen Namen!

Vater, ich will dir sagen, daß du das Haus vorfinden sollst, wie du es
verlassen hast; laß dein Herz ruhig schlagen,  
denn wir sind noch alle darin und du wirst uns erkennen!

O, mein Sohn, Kind, ich kann euch nicht sehen; ich bin ein Gast bei Fremden,  
aber ich will euch sagen, der Weg ist weit und ich weiß nicht wie weit,  
darum beginnt nicht, bevor ich euch beistehen kann, denn ihr seid allein!

Vater, laß dein Herz ruhig schlagen, du bist schon lange weg
und wir wissen nicht wie lang, darum komm uns zu Hilfe,
denn wir wissen nicht, was sie tun werden!

Ich will euch sagen, ich bin über das Meer geflohen
und habe mich verirrt, darum gebt mich nicht verloren,  
denn nicht ich bestimme die Zeit, wann ich zurückkehren muß!

Vater, laß dein Herz ruhig schlagen, unter den Leuten geht das Gerücht,
daß es schon bald sein wird, denn was sie in deinem Haus tun,
kann nicht ungestraft bleiben!

O, mein Sohn, Kind, geh zum Brunnen und hole deiner Mutter Wasser!
O, mein Sohn, Kind, bring` ihr Essen und decke ihre Füße zu!
O, mein Sohn, Kind, ich will bei jedem eurer Schritte neben euch stehen und wachen!

...

Auszüge aus " Odysseus  Klagelieder "
© Thomas Werk  ·  2002